Form: Brett → quadratisch (wenn ausgeklappt 4 dreidimensionale Quadrate mit innerem Hohlraum + das große Spielflächenquadrat, wenn nicht ausgeklappt 1 Quadrat), Figuren → 32 Figuren in Form ihrer jeweiligen Bedeutung / Größe: 18cm x18cm x 6cm, Material: Holz (Thuja?), Farbe: → abwechselnd sehr helle bis sehr dunkle Brauntöne, Funktion: 1. Schach spielen 2. Ablage 3. Behältnis
Es war an einem Dienstagnachmittag im Februar als die beiden Freundinnen in Marrakesh ankamen. Obwohl Lea Märkel und Manon Eichberger sich kaum ein halbes Jahr kannten, saßen sie nun gemeinsam in einem von Dellen und Kratzern übersäten Mietwagen. Der Riss in der Scheibe fiel kaum auf. Es war ihnen ohnehin gleich, denn die schlaflose Vornacht hatte die beiden früher als erwartet eingeholt. Die unendlichen Möglichkeiten sich in Berlins Nachtleben zu verlieren waren Fluch und Segen zugleich und beide wussten, es würde nicht das letzte Mal bleiben.
Dem auf einem Blatt Papier eingezeichneten Weg zur Unterkunft folgend, näherten sie sich der Altstadt. Sobald sie die ocker-rote Mauer der Medina passierten, wurden die Straßen merklich schmaler. Je weiter sie hinein fuhren, desto größer wurden Manons Zweifel den Wagen im Falle falschen Einbiegens wenden zu können. Der Abstand zwischen Seitenspiegel und Fassade wurde verschwindend gering, während sich immer mehr Menschen tummelten. Es klopfte immer häufiger an ihrer Scheibe, doch sie waren fest davon überzeugt, dem eingezeichneten Weg in den Gassen zu folgen.
Der Wagen war nach einiger Zeit nun doch nahezu zum Stillstand gekommen, da das Gewusel der Motorräder, Menschen und unterschiedlicher Tiere den Weg unpassierbar machten. Hier schienen gänzlich andere Verkehrsregeln zu walten.
Die beiden flachen, ausgestreckten Hände immer wieder gegeneinander schlagend und abwechselnd in Fahrtrichtung zeigend, schienen die sich vorbei-quetschenden Motorradfahrer ihnen etwas vermitteln zu wollen. Applaudierten sie zynisch der unbeschreiblichen Dummheit der beiden Touristinnen es mit Auto in das Zentrum der Medina schaffen zu wollen? Oder war es ein freundlich gemeinter Hinweis dafür, dass die kommende Strecke zum Passieren zu eng sein würde? Vermutlich war es eine Mischung aus beidem.
Obgleich die beiden Freundinnen einen Urlaub mit möglichst wenig Internet geplant hatten, überprüften sie nun doch über die Ortungsfunktion ihres Mobiltelefons ob die Karte ihnen den richtigen Weg anzeigte. Und sie tat es. Was sowohl die digitale als auch die analoge Karte nicht anzeigten, waren die weit in die Straßen hineinreichenden Stände und die stets wachsende Anzahl an Menschen, welche sich nicht im geringsten darum kümmerten den Weg freizugeben.
Eine halbe Stunde nach ihrer Ankunft fanden Lea und Manon sich in der unvorteilhaften Situation, von sieben Marokkanern aus einer Sackgasse herausgewunken werden zu müssen. Eine weitere Delle würde wohl kaum auffallen, dachte sich Lea, die schweißgebadet den Wagen zu wenden versuchte. Zwei junge Männer überzeugten die beiden, sie sicher zu ihrer Unterkunft zu begleiten
und ihnen den Weg zu einem Parkplatz zu zeigen. Sie versicherten, eine Fahrt durch das Zentrum der Medina sei unmöglich. So fuhren die beiden auf ihrem Moped voraus. Der Fahrer fiel durch seinen gefärbten Schnauzbart auf. Dunkelbraune Haare und Augen mit einem blond-orange gefärbten Oberlippenbart; so eine seltsame Kombination hatte Manon schon lange nicht gesehen und in Berlin sah man so Einiges.
Den Wagen auf einem Parkplatz positioniert, liefen sie zügigen Schrittes zu viert die engen Gassen an unzähligen Menschen und Marktständen vorbei. Manon musterte den Oberlippenbart des Marokkaners. Ihr Blick wanderte über seine Schulter- und Armtätowierungen hin zu seinen mit blutigen Narben übersäten Händen; es kam ihr komisch vor, da sie sonst niemanden mit Tätowierungen sah und dachte, die Art von Körperkultur sei hier wenig verbreitet. In alle Himmelsrichtungen zeigend, lief er neben ihr her und zählte einige der wichtigsten Sehenswürdigkeiten in Marrakesch auf; sein Kompagnon näherte sich Lea und fragte, ob sie Interesse an Haschisch habe. Ein oder zwei Gramm dieser teuflischen Pflanze würden wohl nicht schaden, dachte sie sich. Am Riad angekommen legten sie ihre Koffer sofort ab, begaben sich auf die Terrasse und genossen gemeinsam mit dem freundlichen Besitzer der Unterkunft einen Tee und eine Haschischzigarette, welche ihnen den Sonnenuntergang und später die Tajine in einem Restaurant nahe des zentralen Marktplatzes Djemaa el Fna versüßen würde.
Am nächsten Morgen sollte es direkt in Richtung Küste weitergehen, denn Marrakesch wollten die beiden während der letzten drei Tage der Reise erkunden. An einer Tankstelle ließen sie erst den Mietwagen von einem jungen Marokkaner mit Diesel volltanken und machten sich auf den Weg gen Westen. Keine fünf Minuten vergingen bis hinter ihnen ein schwarzer Rauchstreif aufkam und der Wagen den Geist aufgab. Der junge Herr hatte kein Diesel in den Tank gefüllt und den beiden somit einen ersten Nervenzusammenbruch beschert.
Zum Glück hatten sie eine Vollversicherung abgeschlossen und zum Glück konnte Manon sich auf französisch verständigen. Sechs Stunden, zwei Blitzer und zehn Liter Schweiß und Tränen später erreichten sie in einem neuem Mietwagen die windige Küstenstadt Essaouira. Sie trösteten sich damit, dass sie das höchste Stresslevel des Urlaubs wohl hinter sich gebracht hatten. Bald würden sie herausfinden, dass dem ganz und gar nicht so war.
Den unregelmäßigen Abstand der Treppenstufen nicht einkalkulierend stürzte Manon die Treppe der nächsten Unterkunft hinauf. Beide lachten. „Es gibt kein Heilmittel gegen Tollpatschigkeit“ sagte Lea und klopfte Manon aufmunternd auf die Schulter. Sie merkten schnell, dass es außer ihnen keine weiteren Gäste gab. Trotzdem fühlten sie sich sehr wohl und entspannten einige Stunden auf den Sonnenliegen des Daches welches, obschon maximal mit Möwenkot bedeckt, eine wunderbare Aussicht erlaubte. Nachmittags begaben sie sich auf Erkundungstour durch die als UNESCO-Weltkulturerbe anerkannte Medina von Essaouira. Sich neben alten Messingkanonen in den Passatwind lehnend saßen die beiden auf der Stadtmauer und schauten auf den Atlantik. Lea begutachtete die Berber-Halskette, die sie sich an einem der unzähligen Stände in den schmalen verwinkelten Gassen zugelegt hatte.
Schließlich liefen sie in Richtung des Hafens um dort ihr Abendessen zu sich zu nehmen. Obwohl beide unglaublichen Hunger hatten, machten sie noch an einem kleinen Geschäft, welches diverse Holzschatullen anbot, halt. Da entdeckte Manon ein Schachbrett. Solch ein Schachbrett hatte sie noch nie gesehen. Drehte man die obere Scheibe im Uhrzeigersinn, so erschienen vier Behälter in welchen die Spielfiguren zu finden waren. Manon musste an ihr altes Schachbrett denken, das sich immer noch in der chemischen Reinigung befand. Im Sommer 2017 hatte es in Berlin einen schrecklich starken und langen Platzregen gegeben, der den Keller ihrer Eltern unter Wasser setzte. Mit der Feuchtigkeit kam der Schwarzschimmel und mit dem Schwarzschimmel der endlos lange Rechtsstreit mit dem Vermieter. Am Ende musste dieser einwilligen, für die kostspielige Reinigung eines Großteils der Gegenstände im Haus, darunter Manons Schachbrett, aufzukommen. Da solle noch einmal jemand behaupten, in Berlin mache sich der Klimawandel nicht bemerkbar.
150 marokkanische Dirham wollte der Verkäufer für das Brett. Auf Manons Frage, ob er es
selbstgeschnitzt habe, führte er sie in einen Hinterraum seines Geschäfts, wo sich ein Tisch mit Holz und Säge befand. Überzeugt. Ob selbstgeschnitzt oder nicht, es war der perfekte Kauf für den Anfang der Reise und der perfekte Anlass für Manon ihre Elo-Zahl zu erhöhen und Lea endlich das Schachspielen beizubringen. Nachdem sie den Laden verlassen hatten, rief ihnen der Verkäufer mit überdimensional großen Füßen auf französisch hinterher: „Das Leben ist wie ein Schachspiel, vergesst das nicht“.
Sie liefen zum Moulay Hassan Platz, wo ihnen durch den starken Wind plötzlich die Haare noch stärker ins Gesicht peitschten. In einem Restaurant mit Blick auf das Meer bestellten sie zwei Hähnchentajinen mit Rosinen. Manon war völlig in Gedanken vertieft und fragte sich, was der Verkäufer mit den Riesenfüßen wohl mit seinem Zuruf gemeint hatte. Just in diesem Moment sagte Lea: „Weißt du Manon, mein Leben ist wirklich wie ein Schachspiel. Ich habe absolut keine Ahnung wie man es spielt“. Beide schmunzeln. „Vielleicht ist das Leben vergleichbar mit einem Schachspiel, weil egal wie gut eine Strategie oder ein Plan auch sein mag, der Verlauf wird immer von den Entscheidungen des Gegners mitbestimmt“, antwortet Manon. Fünf Minuten und eine halbe Tajine später fügt sie fragend hinzu: „Je besser man die Spielregeln des Lebens oder des Schachspiels kennt, desto länger bleibt man am Leben..?“. So verbrachten sie den Rest des Abends und stellten Vermutungen darüber auf, was der Herr wohl gemeint haben könnte.